Michael Lenz | 16.03.2002 |
Evolutionspsychologie
– Kritische Einwände aus interdisziplinärer Sicht
Vortrag auf der 3. Jahrestagung der MVE-Liste („Menschliches Verhalten aus evolutionärer Perspektive“) am 15./16.03.2002 an der Universität Bielefeld
- Einleitung
- Zum Begriff der Anpassung aus interdisziplinärer Sicht
- Über den evolutionären Ursprung menschlicher Verhaltensweisen
- Fazit aus Sicht eines Pädagogen
- Literatur
Als ich vor einigen Jahren mit dem evolutionspsychologischen Ansatz zum ersten Mal in Berührung kam – Percy, daran bist Du nicht ganz unschuldig! –, war ich von dieser neuen Betrachtungsweise zunächst begeistert. Als daraufhin vor zwei Jahren das erste Treffen der MVE-Liste in Kassel stattfand, hoffte ich auf einen breiten interdisziplinären Diskurs über dieses neue Paradigma, denn Evolutionspsychologinnen und -psychologen sind ja in den seltensten Fällen von Haus aus Evolutionsbiologen oder Verhaltensbiologen, sondern Vertreterinnen und Vertreter unterschiedlichster Disziplinen. Diese Hoffnung wurde auf den letzten beiden MVE-Treffen jedoch nur selten erfüllt, zumal sich Evolutionspsychologinnen und -psychologen ausdrücklich dem evolutionstheoretischen Paradigma in der Tradition von Williams, Hamilton, Trivers und Wilson verschrieben haben. Und es hat den Anschein, dass dieses Paradigma weiter expandiert: Mittlerweile gewinnt man den Eindruck, dass in den Bio- und Verhaltenswissenschaften der Markt der ins Deutsche übersetzten populärwissenschaftlichen Literatur geradezu von Werken überschwemmt wird, die mehr oder weniger evolutionspsychologisch geprägt sind. Gleiches kann jedoch nicht für kritische Auseinandersetzungen mit der evolutionspsychologischen Denkweise behauptet werden: So lesen sich die Auseinandersetzung des Wissenschaftsjournalisten John Horgan im Spektrum der Wissenschaft („Die neuen Sozialdarwinisten“, 1996) eher als Einführung in evolutiuonspsychologische Grundsätze, Tagungsbericht einer HBES-Konferenz und Vergleich mit der Verhaltensgenetik; und das kritische Werk von Steven Rose („Darwins gefährliche Erben“, 2000) ist eher als biologisches Schulbuch denn als fundierte Kritik des evolutionspsychologischen Paradigmas konzipiert. Immerhin scheint im anglo-amerikanischen Sprachraum die Diskussion um die Evolutionspsychologie so weit fortgeschritten zu sein, dass im letzten Jahr erstmalig ein Sammelband von Kritikerinnen und Kritikern der evolutionspsychologischen Denkweise von Hilary und Steven Rose („Alas poor Darwin“, 2001) herausgegeben wurde, wobei fast alle evolutionspsychologischen Grundannahmen von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Fachdisziplinen unter Beschuss genommen wurden. Durch letzteren Sammelband fühlte ich mich in meinem Unbehagen gegenüber den Grundannahmen des evolutionspsychologischen Paradigmas bestätigt und die anfängliche Begeisterung für die evolutionspsychologische Denkweise schlug langsam in Skepsis um. Es würde den Rahmen dieses Kurz-Referats sprengen, an dieser Stelle auf alle grundsätzlichen Kritikpunkte an der Evolutionspsychologie einzugehen. Ich werde mich daher im Folgenden auf zwei Punkte beschränken, die ich vorab thesenartig formulieren und in einem zweiten Schritt unter Einbeziehung eines interdisziplinären Blickwinkels näher ausführen möchte:
These 1: Die evolutionspsychologische Betrachtung menschlichen Verhaltens führt zu einer unnötigen Perspektivverengung hinsichtlich evolutionstheoretischer Sichtweisen.
These 2: Evolutionspsychologische Hypothesen laufen Gefahr, in „catch-all“-Erklärungen zu münden und damit alles und zugleich gar nichts zu erklären.
Ich werde im Folgenden versuchen, diese beiden Thesen anhand einer Diskussion des Phänomens der Anpassung aus interdisziplinärer Sicht sowie anhand grundlegender Einwände gegen das evolutionspsychologische Gedankengebäude zu untermauern.
Zum Begriff der Anpassung aus interdisziplinärer Sicht
Als ich vor kurzem einführende Texte zum Radikalen Konstruktivismus gelesen habe, fiel mir ein Verständnis des Phänomens der Anpassung auf, das sich auf den ersten Blick grundlegend vom Darwinistischen Anpassungsverständnis zu unterscheiden scheint. So schreibt Ernst von Glasersfeld, einer der prominentesten Vertreter des Radikalen Konstruktivismus in Deutschland:
„In Darwins Theorie muß ein Organismus eine Körperform und eine Verhaltensweise haben, die in die Umwelt passen, in der er leben muß. Sie wissen alle, daß Anpassung in diesem Darwinschen Sinn nicht etwas ist, das der Organismus selbst tun kann. Sie ist etwas Zufälliges. Biologische Anpassung ist nicht etwas Aktives, sondern ein Zustand. Jedes Lebewesen, das in einer bestimmten Umgebung zu überleben vermag, ist ‚fit‘ (›geeignet‹). Wie der Biologe Colin Pittendrigh (1958) sagte, ist es bedauerlich, daß Darwin selbst gelegentliche Ausrutscher passierten und er von ‚survival of the fittest‘, dem Überleben der ›Tüchtigsten‹ sprach. Dieser Ausdruck ist irreführend. In der ursprünglichen Evolutionstheorie bedeutet ‚fit‘ nicht mehr als die Fähigkeit zu überleben und sich fortzupflanzen“ (v. Glasersfeld 1999, S. 49 f).
Oder in einem anderen Aufsatz desselben Autors:
„In der Evolutionstheorie, wie in der Geschichte des Wissens, hat man von Anpassung (adaptation) gesprochen und damit ein kolossales Mißverständnis heraufbeschworen. Wenn wir die evolutionäre Denkweise ernst nehmen, können es niemals die Organismen oder unsere Ideen sein, die sich der Wirklichkeit anpassen, sondern es ist die Wirklichkeit, die durch ihre Beschränkung des Möglichen schlechthin ausmerzt, was nicht lebensfähig ist. Die ‚natürliche Auslese‘ in der Phylogenese wie in der Wissensgeschichte, liest nicht im positiven Sinn das Widerstandsfähigste, Tüchtigste, Beste oder Wahrste aus, sondern funktioniert negativ, indem sie all das, was der Prüfung nicht standhält, eben untergehen läßt. Der Vergleich ist freilich überspannt. In der Naturgeschichte ist Unzulänglichkeit ausnahmslos tödlich; Philosophen hingegen sterben nur sehr selten an der Unzulänglichkeit ihrer Ideen“ (v. Glasersfeld 1985, S. 21; Hervorhebung im Original).
Dass Auslese im Sinne v. Glasersfelds negativ funktionieren kann, ist unstrittig: Wenn ein genetischer Defekt (z. B. eine Mutation bzw. eine Krankheit) oder ein zufälliges Ereignis dazu führen, dass ein Lebewesen bereits in früher Kindheit stirbt, nicht das fortpflanzungsfähige Alter erreicht oder sich trotz Erreichen der Fortpflanzungsfähigkeit nicht reproduziert, stirbt seine genetische Linie aus. In diesem Sinne ist es als „unfit“ zu bezeichnen. Inwieweit gibt es aber bezüglich der fitness überhaupt eine Steigerung? Diese würde ja voraussetzen, dass es Individuen gibt, die aussterben, welche, die „nur“ überleben und sich fortpflanzen – die also als „fit“ einzustufen sind, zusätzlich einige, die mehr Nachkommen haben und/oder besser überleben (die sind „fitter“), und letztendlich wenige Individuen, die ihre Gene optimal reproduzieren – dies wäre dann „survival of the fittest“. Auch führende Vertreter des biologischen Konstruktivismus, wie z. B. Humberto Maturana und Francisco Varela, beziehen dazu eine deutliche Position:
„Es gibt kein „Überleben des Angepaßteren“, sondern nur ein „Überleben des Angepassten“. Die Anpassung ist eine Frage notwendiger Bedingungen, die auf viele verschiedene Weisen erfüllt werden können, wobei es keine „beste“ Weise gibt, einem Kriterium zu genügen, welches außerhalb des Überlebens zu suchen wäre. Die Unterschiede zwischen den Organismen offenbaren, dass es viele strukturelle Wege der Verwirklichung des Lebendigen gibt und nicht die Optimierung einer Beziehung oder eines Wertes“ (Maturana/ Varela 1987, S. 125; vgl. auch Maturana 2001, S. 65).
Damit wäre die auf Darwin aufbauende und von Spencer geprägte Metapher des „survival of the fittest“ (also die positive Selektion) somit zugunsten eines „non-survival of the unfit“ (also einer ausschließlich negativ wirkenden Selektion, die nur das auswählt, was nicht überlebensfähig ist) zu ersetzten. In der autopoietisch bzw. systemtheoretisch orientierten Theorie Maturanas und Varelas wird dementsprechend in Abgrenzung zum Neo-Darwinismus Anpassung als ein „Interaktions- oder Rückkoppelungsprozess zwischen Organismus und Umwelt (gesehen), nicht (als) eine Auslese von Organismen durch die Umwelt“ (Irrgang 2001, S. 144; Hervorh. ML). Anpassung und Fitness, im Darwinistischen Sinne relative Kategorien, werden in diesem Verständnis gleichsam zur Dichotomie reduziert. Nebenbei sei angemerkt, dass gerade dieses Verständnis von Anpassung auch in andere Systemtheorien Eingang gefunden hat, wie z. B. in die Systemtheorie Luhmanns (vgl. z. B. Luhmann 1997, S. 446). In der Kritischen Evolutionstheorie (Frankfurter Evolutionstheorie von Wolfgang Friedrich Gutmann u. a.), in der Organismen als hydraulische Systeme und Energiewandler und damit als maschinenhafte Gebilde begriffen werden, wird Anpassung wiederum auf der Grundlage des „System(s) Organismus/Umwelt im Sinne einer offenen Koevolution“ (Irrgang 2001, S. 69) interpretiert. Es zeigt sich somit, dass Begriffe wie ‚Anpassung‘ und ‚Fitness‘ interdisziplinär betrachtet nicht auf einem allgemein anerkannten Verständnis beruhen, sondern auch in verschiedenen evolutionstheoretischen Konzepten höchst unterschiedlich definiert und verstanden werden (vgl. ebd.). Die konstruktivistische bzw. systemtheoretische Vorstellung, dass es bezüglich der Selektion eine Grenze gibt, unterhalb derer die Passung von Organismus und Umwelt nicht erhalten bleibt, lässt sich anscheinend sogar bis hin zu Aristoteles zurückverfolgen (vgl. M. Rose 2001, S. 79).
Aus evolutionspsychologischer, soziobiologischer bzw. neo-darwinistischer Sicht werden Anpassung und Fitness natürlich vollkommen anders verstanden: Fitness ist eine relative Kategorie, die sich in differentieller Reproduktion einzelner Organismen manifestiert, und sie ist als Konstrukt durchaus strittig,
„weil es gar keine verbindliche Definition für ‚the fittest‘ gibt: Ist es der epigenetische, physiologisch gut funktionierende Organismus, der sich am besten unter den Konkurrenten durchsetzt? die Art mit der höchsten Vermehrungsrate oder die mit der besten Brutpflege und kinship (Sippenzusammenhalt)? Sind es die ‚egoistischen Gene‘, die das Überleben und das Sozialverhalten bewirken, oder die populationsgenetisch stabilste (am besten isolierte) Art? Oder ist es das Individuum, das am besten den Gesetzen der Thermodynamik gehorcht? (Nagl 1993, S. 6, Hervorhebungen im Original).
Problematisch wird das Konstrukt ‚Fitness‘ vor allem, wenn menschliches Verhalten ins Spiel kommt (vgl. auch H. Rose 2001, S. 110) und/ oder ultra-darwinistische Grundannahmen (im Sinne von Dawkins) in die Diskussion einbezogen werden. Ein populärer Einwand – auch von pädagogischer Seite – ließe sich dementsprechend zuspitzen: „Wem haben denn seine Gene schon einmal geflüstert: ‚Vermehre Dich! Bring uns zahlreich in die nächste Generation!‘? Wird nicht in der heutigen Zeit alles Mögliche getan, um gerade dies zu verhindern?“ Man denke diesbezüglich bspw. an Empfängnisverhütung oder Menschen, die freiwillig auf ihre Fortpflanzung verzichten. Evolutionspsychologen halten dem entgegen, dass die „egoistischen“ Gene unterschwellig wirken: Es handele sich hier um sog. „Als-ob-Effekte“. Menschen verhielten sich statistisch gesehen so, als ob sie von unterschiedlichen Reproduktionsinteressen geleitet würden, es sei ihnen nur nicht bewusst. Derartige unbewusste Prozesse sind aber an sich empirisch kaum überprüfbar. Es ist demnach auch nicht verwunderlich, wenn Pädagogen an dieser Stelle das Fazit ziehen:
„Es ist absurd, unter den Bedingungen einer komplexen, modernen Gesellschaft das Verhalten von Menschen am Maßstab ihres Fortpflanzungserfolgs messen zu wollen“ (Herzog 1999, S. 124).
Es kommt hinzu, dass eine Übertragung soziobiologischer Hypothesen auf den Menschen immer normative Implikationen beinhalten, die meines Erachtens auch nicht vermeidbar sind: Menschen, die sich nicht fortpflanzen – ob nun Priester, Mönche, Genies, Homosexuelle, Unfruchtbare oder andere – besitzen vom Gesichtspunkt der Fitness aus betrachtet eine Null-Fitness. Und von der Soziobiologie herangezogene Erklärungen, wie etwa die Helfer-am-Nest-Hypothese hinsichtlich homosexuellen Verhaltens, bescheinigen eher die Unzulänglichkeit derartiger Hypothesen als dass sie eine akzeptable Erklärung auf der Grundlage empirischer Fakten liefern können.
Als problematisch erweist sich zudem, dass das Konzept der Fitness nur dann greifen kann, wenn Merkmale selektiert werden, die erblich sind (vgl. Campbell 1997, S. 444). Ob dies hinsichtlich menschlicher Eigenschaften, Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen wirklich angenommen werden kann, ist im Einzelfall jeweils nachzuweisen und für menschliches Verhalten auch in der Verhaltensgenetik nicht unumstritten.
Abschließend ein kurzes Fazit dieses Abschnitts: Ich möchte an dieser Stelle offen lassen, ob man aus evolutionspsychologischer Sicht die genannten Alternativvorstellungen zur Anpassung als schwerwiegende Fehlinterpretation des Evolutionsgedankens bewertet oder als einen alternativen „Scheinwerfer“, der dasselbe Phänomen unter einem anderen Blickwinkel beleuchtet – in letzterer Hinsicht ließe sich bspw. Anpassung aus konstruktivistischer Sicht eher als Passung von Subjekt und Umwelt in einem ontogenetischen bzw. aktualgenetischen Verständnis betrachten und widerspräche nicht der neo-darwinistischen Evolutionstheorie. Die evolutionspsychologische Betrachtungsweise menschlichen Verhaltens könnte aber durch ihre Fixierung auf die Kategorie der Fitness und die Überbewertung soziobiologischer Traditionen dazu führen, dass eine Reihe interessanter Alternativmodelle und -perspektiven allzu schnell aufgegeben oder ignoriert werden. Wenn sich auch die überwiegende Mehrheit der Biologen in der heutigen Zeit der Modernen Synthese in neo-darwinistischer Ausprägung verpflichtet fühlt, so erweist sich das Feld der Evolutionstheorien als pluralistischer als es zunächst den Anschein hat (vgl. bspw. den Punktualismus von Eldredge und Gould, die Neutralitätstheorie von Kimura, die Kritische Evolutionstheorie von Gutmann, wobei nur letztere nicht mit dem Darwinismus vereinbar zu sein scheint). Dass vor dem Hintergrund eines interdisziplinären Ansatzes auch Ansätze aus dem Konstruktivismus oder der Systemtheorie in der Pädagogik gewinnbringend einbezogen werden können, hat Herr Treml in seinem Vortrag auf dem letzten MVE-Treffen gezeigt (vgl. z. B. Treml 2000). Für mich stellt sich aufgrund der angeführten Überlegungen jedoch die Frage, ob denn bezüglich der Rezeption biologischen Wissens gerade die Evolutionspsychologie von Pädagogen herangezogen werden sollte.
Die zentralen Kritikpunkte, die gegen den evolutionspsychologischen Ansatz ins Feld geführt werden, beziehen sich oft auf das Modul-Konzept und die Bedeutung der evolutionären Ur-Umwelt (vgl. z. B. St. Rose/ H. Rose 2001). Hinsichtlich der Vorstellung, der menschliche Geist bestünde aus einer Reihe von Modulen (Wie viele soll es eigentlich geben?), scheint m. E. das Hauptproblem darin zu bestehen, dass bisher den Modulen kein neuro-physiologisches Korrelat zugrunde gelegt werden kann, so dass die proximaten Ursachen menschlichen Verhaltens letztlich im Dunkeln bleiben. Diese Diskussion erweist sich aber als derart komplex, dass ich sie hier nicht weiter ausführen möchte und mich im Folgenden exemplarisch der Kritik an der Bedeutung der Ur-Umwelt zuwenden möchte.
Über den evolutionären Ursprung menschlicher Verhaltensweisen
Der Mensch hat etwa 95% seiner Stammesgeschichte als Jäger und Sammler in überschaubaren Gruppen von bis zu 150 Personen verbracht. Nach evolutionspsychologischer Auffassung ist er somit an die spezifischen Umweltbedingungen der Steinzeit optimal angepasst. Da davon ausgegangen werden kann, dass sich das menschliche Genom in den letzten Jahrtausenden nicht wesentlich verändert hat, stellt das steinzeitliche Erbe den Menschen in anonymen Massengesellschaften und Großstädten vor vielfältige Anpassungsprobleme („Mammutjäger in der Metro“), da einige der an die Ur-Umwelt (EEA = environment of evolutionary adaptedness) angepassten Merkmale und Verhaltenseigenschaften nicht länger von Nutzen sind.
Eine derartige Beschreibung eines der Grundpfeiler evolutionspsychologischen Denkens erinnert stark an Sichtweisen, die bereits in den 80er Jahren der Humanethologie – insbesondere den Thesen von Irenäus Eibl-Eibesfeldt – zugrunde lagen, damals formuliert als stammesgeschichtliche Vorprogrammierungen im Verhalten (vgl. z. B. Eibl-Eibesfeldt 1985).
Doch was wissen wir heute überhaupt von den Lebensbedingungen des Pleistozäns? Die zusammenfassende Antwort auf diese Frage fällt eher nüchtern aus: nicht gerade viel! Die anthropologischen Befunde hierzu beschränken sich in der Regel auf vereinzelte Knochen-, Schädel- und Werkzeugfunde (vgl. z. B. Dietrich/ Sanides-Kohlrausch 1994, S. 401 f; M. Rose 2001, S. 229 ff). Je näher man dabei aus phylogenetischer Sicht dem gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Schimpansen kommt, desto weniger Funde lassen sich anführen. So bleibt die Befundlage hinsichtlich der Australopithecinen bspw. auf einige wenige Schädelfragmente und Skelettteile beschränkt. Dies geht so weit, dass nach heutigem Forschungsstand noch nicht einmal sicher bewiesen werden kann, ob es sich bei „Lucy“, der bekanntesten Australopithecinen, wirklich um eine Frau oder einen Mann gehandelt hat (vgl. H. Rose 2001, S. 118). Wie lassen sich daraus gesicherte Hinweise auf die Lebensweise geschweige denn die Sozialbeziehungen der frühen Hominiden ableiten? Wenn zum Beispiel menschliche Knochen in Höhlen gefunden werden, so heißt dies noch lange nicht, dass die Frühmenschen wirklich in Höhlen gelebt haben. Sie könnten dorthin auch von Raubtieren geschleppt und anschließend verspeist worden sein. Evolutionäre Erklärungen bewegen sich aus diesen Gründen auf sehr dünnem Eis, zumal häufig alternative Erklärungen nicht ausgeschlossen werden können. Was wäre, wenn man in psychologischen Tests ein besseres räumliches Erinnerungsvermögen beim Mann feststellen würde? Evolutionspsychologen würden mit Sicherheit auch dazu eine evolutionäre Erklärung finden, bspw., dass Männer sich sehr genau die Wasserstellen merken mussten, an denen sie ihre Jagdbeute wieder finden konnten – insofern frühe Hominiden überhaupt gejagt haben, denn es besteht weiterhin eine offene Debatte darüber, ob sie sich nicht schwerpunktmäßig von Aas ernährt haben.
Evolutionspsychologische Hypothesen können sich damit aber als „catch-all-Erklärungen“ erweisen, die alles (und auch gegenteilige Befunde) – und damit zugleich auch gar nichts – erklären können, da prinzipiell für jedes Verhaltensmerkmal eine evolutionäre Erklärung gefunden werden kann. Als Ergebnis werden Geschichten über die evolutionäre Lebensweise früher Hominiden konstruiert, die so, aber auch ganz anders aussehen können – ein Umstand, der ihnen im anglo-amerikanischen Sprachraum den Begriff der ‚just-so-stories‘ eingebracht zu haben scheint. Im Deutschen könnte man den Begriff der ‚Paläo-Poesie‘ anführen. Als Auswege aus diesem Dilemma bieten sich hier das Studium heute noch lebender Jäger-Sammler-Völker sowie primatologische Vergleiche an, die aber beide durch methodische Schwierigkeiten behaftet sind, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann.
Es zeigt sich damit, dass dieser Eckpfeiler evolutionspsychologischer Argumentationen nicht frei von kritischen Einwänden bleiben kann, wobei an dieser Stelle hinzugefügt werden muss, dass evolutionspsychologische Annahmen über die Lebensbedingungen des Pleistozäns sowie insbesondere über die Verhaltensweisen früher Hominiden nur schwer – wenn überhaupt – falsifizierbar sind. Dies ist ein Einwand, der sich auch bezüglich der Fitness als soziobiologischem Erklärungsprinzip für jede erdenkliche Verhaltensweise anführen lässt, wie bspw. Lutz Eckensberger im Streitgespräch mit Eckart Voland im Spektrum der Wissenschaften gezeigt hat (vgl. Eckensberger/ Voland 2001, S. 98).
Fazit aus Sicht eines Pädagogen
Als Pädagoge und Anhänger sozialisationstheoretischer Ansätze, der aber zugleich ein Lehramtsstudium in Biologie und Pädagogik abgeschlossen hat, sitze ich sozusagen disziplinär betrachtet „zwischen den Stühlen“. Und damit bleibt auch eine gewisse Ambivalenz nicht aus: Auf der einen Seite halte ich eine stärkere Rezeption biologischer Erkenntnisse in der Pädagogik für unverzichtbar und wünschenswert. Gerade die Sozialisationsforschung, der es in der Vergangenheit bereits gelungen ist, psychologische und soziologische Basisparadigmen erfolgreich miteinander zu verknüpfen, hätte durch den Einbezug biologischer Ansätze die Chance, die so oft beschworene und beklagte Kluft zwischen den Natur- und Geistes- bzw. Sozialwissenschaften ein Stück weit zu überwinden. Auf der anderen Seite stellt sich mir die Frage, welche biologischen Ansätze auf derart abgesicherten Erkenntnissen beruhen, dass sie in der Pädagogik berücksichtigt werden sollten. Hinsichtlich der Frage, ob diesbezüglich auf soziobiologische oder evolutionspsychologische Ansätze zurückgegriffen werden sollte, bleibe ich skeptisch, wie die obigen Ausführungen gezeigt haben sollten.
Ich gehe davon aus, dass viele dieser Ausführungen in den letzten 20 Minuten bei Ihnen zu Stirnrunzeln und einer Menge Widerspruch geführt haben. Aber vielleicht können sie auch als Rückmeldung oder als Außensicht eines evolutionspsychologischen Laien auf das Gebiet der Evolutionspsychologie dienen und zur Diskussion anregen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!
Campbell, Neil A.: Biologie, Heidelberg; Berlin; Oxford: Spektrum, Akad. Verl. 1997
Dietrich, Cornelie /Sanides-Kohlrausch, Claudia: Erziehung und Evolution. Kritische Anmerkungen zur Verwendung bio-evolutionstheoretischer Ansätze in der Erziehungswissenschaft, In: Bildung und Erziehung, 47. Jg, H. 4/ 1994, S. 397-410
Dover, Gabriel: Anti-Dawkins, in: Rose, Hilary/ Rose, Steven (Eds.): Alas poor Darwin. Arguments against Evolutionary Psychology, London et al.: Vintage 2001, pp. 47-66
Eckensberger, Lutz H./ Voland, Eckart: Gene und Verhalten. Was bewegt den Menschen? (Spektrum Interview), In: Spektrum der Wissenschaft, H. 4/ 2001, S. 96-99
Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten, Kiel: Orion-Heimreiter 1985
Glasersfeld, Ernst von: Einführung in den radikalen Konstruktivismus, In: Watzlawick, Paul (Hrsg.): Die erfundene Wirklichkeit, München: Piper 1985, S. 16-38
Glasersfeld, Ernst von: Radikaler Konstruktivismus oder Die Konstruktion des Wissens, In: Watzlawick, Paul/ Nardone, Giorgio (Hrsg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. Eine Einführung, Müchen: Piper 1999, S. 43-58
Gould, Stephen Jay: More Things in Heaven and Earth, in: Rose, Hilary/ Rose, Steven (Eds.): Alas poor Darwin. Arguments against Evolutionary Psychology, London et al.: Vintage 2001, pp. 85-105
Herzog, Walter: Verhältnisse von Natur und Kultur. Die Herausforderung der Pädagogik durch das evolutionsbiologische Denken, In: Neue Sammlung, 39. Jg., H. 1/ 1999, S. 97-129
Horgan, John: Die neuen Sozialdarwinisten (Erstveröffentl. 1995). In: Sommer, Volker (Hrsg.): Biologie des Menschen, Heidelberg; Berlin; Oxford: Spektrum, Akad. Verl. 1996, S. 146-153
Horgan, John: Der menschliche Geist. Wie die Wissenschaften versuchen, die Psyche zu verstehen, München: Luchterhand 2000
Irrgang, Bernhard: Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, 2. Aufl., München; Basel: Reinhardt 2001
Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997
Maturana, Humberto: Was ist erkennen? Die Welt entsteht im Auge des Betrachters, München: Goldmann 2001
Maturana, Humberto R./ Varela, Francisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern; München: Goldmann 1987
Nagl, Walter: Grenzen unseres Wissens am Beispiel der Evolutionstheorie, In: Ethik und Sozialwissenschaften, 4. Jg., H. 1/ 1993, S. 3-16
Rose, Hilary: Colonising the Social Sciences?, in: Rose, Hilary/ Rose, Steven (Eds.): Alas poor Darwin. Arguments against Evolutionary Psychology, London et al.: Vintage 2001, pp.106-128
Rose, Hilary/ Rose, Steven (Eds.): Alas poor Darwin. Arguments against Evolutionary Psychology, London et al.: Vintage 2001
Rose, Michael R.: Darwins Schatten. Von Forschern, Finken und dem Bild der Welt, Stuttgart; München: Deutsche Verlags-Anstalt 2001
Rose, Steven: Darwins gefährliche Erben. Biologie jenseits der egoistischen Gene, München: Beck 2000
Rose, Steven: Escaping Evolutionary Psychology, in: Rose, Hilary/ Rose, Steven (Eds.): Alas poor Darwin. Arguments against Evolutionary Psychology, London et al.: Vintage 2001, pp. 247-265
Treml, Alfred K.: Allgemeine Pädagogik. Grundlagen, Handlungsfelder und Perspektiven der Erziehung, Stuttgart u. a.: Kohlhammer 2000
© 2002 Michael Lenz
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